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Raus aus der Neoliberalismus-Hölle

Die Erkenntnis lauert oft an ungewöhnlichen Orten. Bei mir hatte sie sich im Wirtschaftsteil versteckt. Nach der Lektüre war mir klar: bei uns zu Hause regiert der Neoliberalismus. Das ist das, was in den 80ern super war, dann böse (2000er) und schließlich wieder cool (Leonardo DiCaprio in der Wolf of Wall Street.) Oder anders: der Staat (also der Papa und ich) hat immer weniger zu sagen. Dafür wird der Wettbewerb gesichert und stetig vorangetrieben. Der ungebremste kalte Wettbewerb. Er hat sich aufs Perfideste in unsere heimelige Dunstglocke geschlichen: als Erziehungstipp.

Ich war an der Entwicklung also nicht ganz unschuldig. Vermutlich ist euch das noch nie begegnet, aber manchmal wollen Kinder nicht wie man selbst. Anziehen zum Beispiel oder auch Ausziehen. Dann las ich irgendwo: „Machen sie doch aus dem abendlichen Aus- und Umziehen einen kleinen Wettbewerb.“ Das klang genial und nach dem ersten Versuch wusste ich, das ist genial. Das Kind liebte es und ist zudem noch in dem Alter, indem als Anreiz „Wer zuerst fertig ist, hat gewonnen.“ genügt. Ich hatte den Stein der Weisen gefunden. Nicht nur, dass ich endlich wieder meinen Willen bekam. Auch die weitverbreitete Kindereigenschaft des Trödelns war mithinweggefegt.

Ich hatte nicht viel Zeit meine eigene Klugheit zu bestaunen.

Mittlerweile lebe ich im Herr der Fliegen. Alles ist Wettbewerb. Widme ich mich 1 bis 2 Sekunden einer beliebigen Tätigkeit, taucht das Kind neben mir auf und verkündet den Start des Kräftemessens. „Schälst du Kartoffeln, Mama?“ „Ja.“ „Ich laufe ins Kinderzimmer und zurück, wer zuerst fertig ist.“

Überhaupt: laufen, Schnelligkeit. Sobald ich mich von einem beliebigen Gegenstand erhebe, steht Detlef D. Soost neben mir und brüllt mich an: „Los, lauf! Wer zuerst im Bad ist.“

Ich bin nicht Jan Hofer. Die Wohnung ist nicht groß genug für ständiges Wettgelaufe. Meine Achillessehne kann die ununterbrochenen Kaltstarts nicht mehr ertragen. Nahrungsmittel werden nur noch mit Lichtgeschwindigkeit heruntergewürgt und die Gliedmaßen sind vom mindestens zweimaltäglichen An-und Ausziehmarathon verrenkt. Unnütz zu erwähnen, dass das Kind immer gewinnen muss. Wenn ich schneller bin, machen wir Best of 3. Holt mich hier raus. Bitte.

Ich hege Sympathien für Menschen, denen schlechte Ideen im zwischenmenschlichen Umgang vorgeworfen werden: Diktatoren zum Beispiel…oder Gott. Man ahnt gar nicht, wie schnell sich ehemals gut gemeinte Ansätze verselbstständigen können. So wie mir muss es Gott ergangen sein, als er den Wettbewerb erfand. „Dufte Idee,“ wird er gedacht haben „das bringt ein bisschen Schwung in den Laden.“ Und schon ist die Büchse der Pandora geöffnet und andere formen aus deiner Eingebung die Schlange.

Wie im richtigen Neoliberalismus wird auch bei uns stetig die Intensität gesteigert. Der Wettbewerb wird nicht nur härter sondern auch unfairer. Während das morgendliche Wettanziehen früher Angesicht zu Angesicht stattfand, muss ich nun im Schlafzimmer ausharren bis aus dem Kinderzimmer das Startsignal ertönt. Die Hälfte der Sachen hat das Kind immer bereits übergestreift, wenn es „Auf die Plätze fertig los.“ schreit. Methoden, die ich sonst nur aus Vorstandsklausuren kenne. Beim Vorlesen des Märchenbuches gestern Abend wurde mir klar: der Igel war der erste Investmentbanker. Und ich bin der Hase – ganz kurz davor, mitten im Feld zusammenzubrechen.

Ich kann diesem ganzen traurigen Geschehen nur einen positiven Aspekt abgewinnen. Wenn ich mich irgendwann wieder von einer Mutter in Humankapital zurück verwandele und einer ordentlichen Erwerbsarbeit nachgehe, werde ich zumindest nichts verlernt haben.

Foto: flickr – jwyg – CC by 2.0

Spoiler: Babycontent, Vereinbarkeit und Persönliches

Ich hatte Angst vor diesem zweiten Kind. Ich konnte mich zu gut an die ersten 18 Monate mit dem Ersten erinnern. Wie ich morgens im Halbdunkeln erschöpft durch die Wohnung stolperte, im Kopf nur einen Gedanken: „Lass sie nicht fallen.“ Wenn ich Besuch die Tür öffnete, kam es vor, dass mir wie automatisch die Tränen über die Wangen liefen. Ich ging ungern ans Telefon, weil ich nicht erzählen wollte, wie es war. Über gut gemeinte Hilfe wie „Schlaf, wenn das Baby schläft.“ konnte ich nur sehr, sehr müde lächeln. Dieses Baby schlief nie mehr als 15 Minuten am Stück. Das Aufwachen aus der gerade begonnenen komatoösen Ruhe war schlimmer als wach zu bleiben. Mein Partner und meine Eltern waren immer da, aber die Wohnung klein, die Lunge stark und das schlechte Gewissen mein ständiger Begleiter. Ich wollte Mutter sein. Ich war verzweifelt darüber, dass es nicht zu klappen schien, dass ich es vielleicht nicht besaß. Mutterinstinkt, die Gabe, ein Kind zu beruhigen, innere Ruhe, Entspanntheit.

Der schlechte Schlaf machte nicht nur mir zu schaffen. Das Kind war oft mürrisch. Die Momente, wenn es mit sich im Reinen war, sich freute, lächelte, waren rar gesäht. Ich kaufte in den Lebensmonaten sechs bis neun unzähliges Spielzeug in der Hoffnung, etwas zu finden, was uns beiden Spaß machen würde. Ich fragte mich oft, wie ich mir alles vorgestellt hatte und die Antwort war, ich hatte gedacht, dass es einfach funktioniert.

Das klingt sehr düster. Wenn ich mich heute mit Menschen in meinem Leben unterhalte, die diese Zeit miterlebt haben, sind sie manchmal über meine Einschätzung überrascht. So haben sie es nicht wahrgenommen. Die Wahrheit liegt vermutlich dazwischen. Nicht alles war immer 100% dunkel in diesen anderthalb Jahren aber die richtig schweren Momente haben deutlich an mir genagt. Ich hatte mir Dinge vorgestellt, die es nicht gab. Einfach im Bett liegen und mit dem Baby kuscheln. Irgendwo sitzen & es betrachten, wie es wach in meinen Armen liegt und mich anschaut. In ein Babybett zu blicken und überrascht feststellen, dass das Kind schon wach ist und sich die Welt betrachtet.

Nach einem knappen dreiviertel Jahr wieder arbeiten zu gehen war zu früh für mich allein und zu früh für mich und das Kind. Ich war körperlich bereits am Ende, nicht in der Lage, mich richtig zu konzentrieren. Die Kitaviren gaben mir den Rest, aber ich wollte nicht krank sein. Das Kind war schließlich oft genug krank – auch wenn man sich die Betreuung aufteilte. Ich hatte im Kopf, dass man nach spätestens einem Jahr wieder arbeiten geht – so sah es auch mein Arbeitgeber. So sehen es die Meisten in Berlin, das Elterngeld gibt diese – ziemlich willkürliche – Grenze vor. 35 Stunden war ebenfalls zuviel. Oft saß ich im Auto vor der Kita und fantasierte einfach noch 10 Minuten sitzen bleiben zu können, um kurz zu verschnaufen. Aber die Abholzeit war bereits da. Die Wochenenden reichten nicht zur Erholung. Da musste ich Krankheiten unterdrücken, damit ich am Montag wieder auf den Bürostuhl konnte.

Das Schlimmste für mich war: ich wollte Mutter sein. Ich wollte Spaß haben am Vorlesen, am Basteln, am Spielen. Nicht weil ich antiquierte Rollenbilder verinnerlicht hatte, sondern weil ich tief in meinem Inneren wusste, dass das eigentlich Ich war. Ich wollte entspannt mit meinem Kind umgehen können, mich freuen, es abzuholen. Nicht sofort genervt sein, wenn es sich auf dem Weg zum Supermarkt etwas am Wegesrand ansah. Nicht an die Uhr schauen, wann endlich Zeit fürs Bett wäre. Dafür hätten wir beide noch ein bisschen zu Hause bleiben müssen. Noch Zeit gebraucht, um Ruhe hineinzubringen bevor neue Herausforderungen hereingelassen werden. So beschloss ich, dass ich vielleicht doch einfach anders war als Mutter, als ich gedacht hatte. Heute weiß ich, dass es nicht an mir lag.

Nachdem ich meine Arbeitsstunden reduziert hatte und kurz vor dem 2. Geburtstag der magische Schalter umgelegt wurde, fühlte ich mich, als wäre Aschenputtels Zauberfee vorbeigekommen. Meine Tochter ist jetzt vier. Seit zwei Jahren kann ich die Mutter sein, die in mir steckte. Ich mag es, vorzulesen und zu basteln, ich denke mir Spiele aus, koche und backe mit ihr. So zu sein brauchte Zeit und Ruhe. Klar, es gibt die nervigen Momente, die kräftezehrenden Episoden. Aber ich meistere sie, weil ich meine Kraft nicht komplett andernorts aufbrauche.

Hier könnte der Text aufhören. Mit meinem Plädoyer sich nicht in den Arbeitsmarkt drängen zu lassen. Weil das eigene Bedürfnis auch sein kann beim Kind zu sein – mit der inneren Ruhe sich ihm zu widmen. So hätte ich den Text bereits vor zwei Jahren schreiben können. Aber irgendetwas hielt mich immer ab. Jetzt bin ich froh darüber. Denn nun ist das zweite Kind da.

Ich mache es kurz. Die ersten sechs Wochen sagen noch nicht viel aus, aber ich habe ein ganz anderes Baby, als ich es erwartet habe. Man kann mit ihm im Bett kuscheln und sich mit dem wachen Kind auf Stühle setzen. (Woah!) Es schläft, es weint, es lächelt. Ich habe mein Grundvertrauen als Mutter vor zwei Jahren wieder gefunden. Und es ist noch da. Weil ich das Baby beruhigen kann, weil ich genügend Schlaf bekomme, weil ich morgens mal Tee trinken und Zeitung lesen kann. Weil es soviel Spaß macht mit den beiden Kindern neben all der Anstrengung, dass ich mich freue, wenn die Große morgens nicht in den Kindergarten will. Ich liebe meine Töchter. Ich bin immer noch die Mutter, die ich sein will.

Seit Monaten will ich etwas schreiben über Vereinbarkeit, über das Bereuen der Mutterschaft, über Emanzipation und Feminismus, die Arbeitswelt und die neuen Väter, über Sigmar Gabriel und Manuela Schwesig. Am Besten analytisch, klug, abstrakt. Heute ist mir klar geworden, es geht nur persönlich. Ich bekam das erste Kind und alles war schwierig. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich nicht wieder mit diesen Rahmenbedingungen in den Job einsteigen. Dies wäre ein Plädoyer für Geht alles gar nicht. Innerlich rief ich: Lasst mich in Ruhe mit eurem Scheiß von wegen Frauen sollen sich nicht ins berufliche Aus setzen, ich kann kaum krauchen.

Jetzt weiß ich, dass es auch anders laufen kann. Natürlich ist dies gerade eine anstrengende Zeit. Wickeln, stillen, trösten, Haushalt, spielen, toben – alles kostet eine Menge Zeit. Ich fange morgens an zu arbeiten, wenn der vollzeitarbeitende Mann aus dem Haus geht und bin noch dabei, wenn er nach Hause kommt. Zwischendurch mache ich die ein oder andere Pause wie er auch. Ich weiß um die Unterschiedlichkeit unserer Arbeit, um die Nachteile meines Zuhausebleibens, um die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen. Aber dies sollte ja kein analytischer und logischer Text werden. Deshalb schreibe ich. Ich genieße es, zu Hause zu sein, Mutter zu sein. Es erfüllt mich. Ich möchte mir meine Ruhe und Entspanntheit bewahren. Ich möchte mir meine Freude an meinen Kindern erhalten.

Aber ich verstehe nun auch die, die schnell wieder zurück in den Job wollen. Als ich selbst keine Kraft hatte, hielt ich diese Frauen für Blenderinnen. Jetzt habe ich eine Ahnung davon, wie unterschiedlich alles sein kann. Mit mehr Schlaf und Ruhe habe auch ich unabhängig vom Muttersein Tatendrang und Ideen. Wann ich sie umsetze? Keine Ahnung. Ich habe mir aus der Erfahrung des ersten Kindes offen gelassen, wann ich ins Büro zurückkehre. Nun ergibt sich nicht, dass ich früher wieder zurück komme. Vielleicht sogar das Gegenteil. Dass ich frei entscheiden kann, ist ein Privileg. Dass nur Muttersein mir länger reichen könnte als gedacht, ist meine Entscheidung. Mein Beitrag zur Debatte ist meine Geschichte. Mehr erzählen, mehr Erfahrungen teilen, ohne mit dem Finger aufeinander zu zeigen, ohne die eine Wahrheit zu suchen, halte ich für eine gute Idee.

…dass persönliche Entscheidungen immer gesellschaftliche Tragweite haben. …dass wir uns – Frauen wie Männer – kaputt machen, wenn wir versuchen, in einer Arbeitswelt glücklich zu werden, die noch in weiten Teilen erwartet, dass Frauen arbeiten wie Männer in den 50ern. (Ein Modell, welches sich bis heute hält.)…dass wir Veränderungen im Keim ersticken, wenn wir uns zurück ziehen und still zu Hause bleiben. ….Das ist Stoff für einen anderen Text. Den analytisch-unpersönlichen.

Foto: flickr – Grant Hutchinson – CC by 2.0

Die Ruhmeshalle abgestorbener Körperteile

Nennt mich kaltherzig und unemotional. Wenn ich in Wohnungsfluren vorbei gehe an in Gips gegossenen schwangereren Bäuchen und Brüsten, die man zur Zierde an die Wand genagelt hat, schaudert es mich ein wenig. Aus der Raufasertapete ragende 3D-Babyfüße und Hände lösen bei mir kein seufzendes „Wie Süß!“ aus, sondern erinnern mich an Horrorfilmsequenzen, in denen sich Gestalten langsam aus der Wand materialisieren. Das geht selten gut aus.

Das Sammeln von Memorabilia als Beweis für die eigene Fortpflanzungsfähigkeit geht aber bereits viel früher los.

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Als jemand, in dessen Amazon-Bestellhistorie sich ein 100er Pack Schwangerschaftstests befindet, bin ich vertraut mit der Gefühlsachterbahn, die deutlich vor dem erwarteten Ereignis einsetzen kann. Wer zirka 3000 Mal den eigenen Testzyklus-aus-der-Hölle durchlaufen hat,

(Gedächtnisprotokoll des inneren Monologs: Mhm, Frühtest möglich 10 Tage nach Befruchtung am Besten morgens, soll ich? – Schaut auf die Uhr – 19:30 Uhr – Ach, ich mach mal. – Moment, ist das eine zweite Linie? – Ok, konzentriere dich: 9 Tage nach dem positiven Ovulationstest & 8 und 3/4 Tage nach dem Sex  – Könnte sein? Bitte, bitte. Moment, ist das eine Linie? – Ich google nochmal Bilder von positiven Tests. Geht mit dem Gesicht ganz nah an das Teststäbchen. Könnte eine Linie sein. Pause. Das ist sowas von einer Linie! – Geht in einen anderen Raum zur weiteren Begutachtung. Im Küchenlicht sieht es ganz anders aus. Ach, ich mache einfach nochmal einen Test…)

kann das eigene Glück kaum fassen, wenn man tatsächlich zwei Linien sieht. Gleichzeitig steigt eine leichte Peinlichkeit in einem auf, weil man es nun blau auf weiß hat, dass bei Schwangerschaftstest null Interpretationsspielraum besteht. Ähnlich wie bei Wehen, wo man schlaflose Nächte hat angesichts der eigenen Unsicherheit, ob man sie auch erkennen wird. Ha,ha.

Was ich damit sagen will: ich verstehe die Freude, ich verstehe es nur zu gut, wenn positive Schwangerschaftstests aufgehoben und in Alben geklebt werden. Ich habe meinen auch zunächst aufbewahrt – bis er in eine ungute Farbe wechselte und ich den Gedanken nicht mehr wegschieben konnte, dass es sich im Kern um ein in Urin getränktes Stück Papier handelte. Fun Fact: Erinnerungen an meine Schwangerschaft habe ich trotzdem behalten. Sie heißen meine Töchter.

Speaking of Kinder. Wenn diese erstmal auf der Welt sind, nimmt das Sammeln und Konservieren diverser Zellansammlungen des Nachwuchses erst richtig Fahrt auf. Im Laufe so eines Kinderlebens kann man ein ganzes Milchzahngebiss, Haare, Wimpern oder die ersten abgeschnittenen Fingernägel aufbewahren. Alles schon gesehen. Wer Lust hat kann sich diverse hübsche Aufbewahrungsvarianten bei Pinterest anschauen. Oder gleich die Nabelschnurkette für Mama bestellen.

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Vermutlich der Zweitjob des Requisiteurs aus Sieben. Böse Vergleiche beiseite: Sammelt, was ihr mögt. Von mir aus auch tote Zellen, die mit der Zeit nicht schöner werden. (Jeder, der bei Oma schonmal den abgeschnittenen Zopf der eigenen Mutter gezeigt bekommen hat, weiß, dass diese Dinge irgendwann unweigerlich in Richtung Serienkiller mutieren.)

Komischerweise hört die Sammelleidenschaft auch bei den größten Trophäenjägern irgendwann auf. Eher selten wird der erste Tampon, der erste Joint-Stummel oder das erste Kondom für die Nachwelt archiviert. Eltern pubertierender Jugendlicher werden mir nun vermutlich zuwerfen, dass sich Kinder zu diesem Zeitpunkt in einem Stadium befinden, an das man sich nie wieder erinnern will. Für die Konservierung der Artefakte bliebe vor diesem Hintergrund nur noch wenig Zeit. Hat man sich doch bereits in die Ruhmeshalle der abgestorbenen Körperteile zurückgezogen, in der man sich – mit verträumtem Blick auf 3D-Babyfüße, Milchzähne und erste Haarlocken – daran erinnert, wie klein und niedlich sie mal waren.

Foto: flickr – Tom Simpson – CC by 2.0

 

Insomnia – ein nächtlicher Listenpost

Das erste Kind schlief schlecht bis gar nicht – der Klassiker. Das neue Baby schläft viel zu gut, um wahr zu sein. Damit ich mich nicht zu sehr daran gewöhne, es zählt schließlich erst wenige Wochen, übernimmt mein Kopf dankenswerterweise die Babyrolle. Er schläft schlecht ein, meistens gar nicht & hält mich wach mit ausgefeilter Taktik allerlei Quatsch.

Immerhin inspiriert er so wieder einmal einen Listenpost, die klicken ja angeblich gut: Kopf-Wachhaltestrategien – die nervigsten 10. Und ja, ich tippte das hier gerade nachts im Bett…im Dunkeln. Ihr dürft gern mitlesen. Aber leise, die anderen schlafen schon.

  1. Gruselige Bilder – „preventing sleep since 1992“ – Kopf: „Hey, erinnerst du dich an den Horrorfilm von letzter Woche? Hier, ich zeige dir nochmal das Gesicht von dem unheimlichen Geistermädchen.“
  2. Wahllose Gedächtnisstichproben – Kopf: „Hey, schläfst du schon? Könntest du mal kurz nachgucken, wie dieses Virus in Dingens hieß? Nur für eine Sekunde? Interessiert mich gerade. Und läuft dieser Film eigentlich schon, hier, der da mit dem Typ aus dem anderen mit den Flugzeugen?“
  3. Replay von peinlichen Momenten meiner bisherigen Existenz – Was könnte man nachts mehr wollen, als an Episoden erinnert zu werden, in denen man sich wie ein kompletter Idiot verhielt? Auch gern genommen: Momente, die eigentlich gut liefen in der Neu-Loser-Version abspielen.
  4. Kleine Aufgaben in Haus & Garten – Ist der Herd aus? Das Auto wirklich abgeschlossen? – aktiviert zuverlässig den Nachgucken vs. Nicht-Nachgucken-Modus mit anschließendem inneren Monolog: „Ich schaue jetzt nach.“ – „Du bleibst liegen, es war noch NIE etwas an.“ – „Aber, wenn dieses Mal doch, ich könnte einfach mit der Fernbedienung vom Balkon aus auf das Auto zielen.“ – „Dann weckst du alle im Schlafzim….Moment, sei mal leise, rauscht da was im Bad?“
  5. Schlucht der verpassten Termine – Kopf: „Wann war eigentlich Fasching im Kindergarten? Und ist nicht bald wieder U-sonstwas? Oh Gott, 2016, schon wieder Steuer.“
  6. Kopf: „Jetzt weiß ich wieder, wie der Typ aus dem Flugzeugfilm heißt!“
  7. Strategien für unwahrscheinliche Ereignisse entwerfen – Kopf: „Ok, was machen wir jetzt mit dem Lottogewinn? Oder bei der Zombieapokalypse?“ – „Geh schlafen, Kopf, es gibt keine Zombies.“ – „Wie sicher bist du da genau? Jetzt, wo wir sowieso wach sind, könnten wir auch über ein gutes Versteck nachdenken, oder?“
  8. Wahrscheinliche Ereignisse ausmalen – Kopf: „Ist gut möglich, dass das passiert. – Aber…was ist, wenn du dir selbst im Weg stehst? Oder vorher stirbst?
  9. Kopf: „Hey – das ist ein super Thema. Mal angenommen, du wachst morgen nicht auf. Hast du allen oft genug gesagt, wie sehr du sie liebst? Wer kümmert sich um den Blog? Niemand kennt dein wordpress – Passwort. Du musst wieder aufwachen! Streng dich an, atme!“
  10. Ich: „Wird das schon hell draußen? Wo ist der IPod? Ich könnte ein Foto vom Berliner Sonnenaufgang für Instagram machen. Oder einen Post über nervige Nachtgedanken tippen.“ – Kopf: „Ich bin raus.“

Foto: flickr – David van der Mark – CC by 2.0

„Ich hoffe, meine Bücher können mir irgendwann verzeihen.“ – Geständnis einer Lückenleserin

Es gibt diesen Traum, in dem ich nachts am Bücherregal stehe. Im Halbdunkeln. Wie ein Eindringling in meiner eigenen Wohnung habe ich mich heimlich dorthin geschlichen. Dann macht jemand das Licht an & ich stehe ertappt mit schuldbewusstem Blick im hellen Raum. Tinte ist in meinem Gesicht verteilt, die Fingerkuppen dunkel gefärbt – wie wenn man zu viele Kirschen gegessen hat. Eine Lektürevampirin, die alle Bücher auf einmal haben wollte.

Lange bevor Netflix binge watching erfunden hat, habe ich es mit Büchern praktiziert. Ich springe von einem zum anderen, ich verschlinge sie…und verpasse dadurch nicht selten das wirklich schmackhafte Innenleben. Meine Vorsätze sind andere, wenn ich mit einem neuen 300-Seiten Wälzer nach Hause zurück kehre. Ich lege ihn ab & nehme mir vor, es dieses Mal zu genießen & nicht alles mit einem Happen zu vertilgen. Aber ich kenne mich selbst zu gut. Was Bücher betrifft, bin ich eine Lückenleserin mit wenig Chancen auf Heilung. Seit ich lesen kann, pflüge ich mich durch Bücher. Ich scanne Seiten grob & füge die Handlung im Kopf zusammen. Für ganze Sätze habe ich keine Zeit. Ich versuche, so schnell wie es nur geht zu sein – bis zu dem Punkt, an dem ich keine Wörter mehr lese. Ihre Formen verschwimmen. Manchmal muss ich zurück blättern, um nicht ganz den Faden zu verlieren. Aber ich kann nicht langsam. Seit der Kinderbücherei  und den schier endlosen Reihen von Fünf Freunden oder Hanni und Nanni weiß ich: es gibt so unendlich viele Bücher. Und ich will sie alle haben.

Nicht unbedingt die physischen Exemplare, was heute aus Platzgründen und damals aufgrund des Ausleihmaximums von 5 Büchern nicht möglich wäre. Nein, es geht mir um ihre Natur, ihren Charakter. Bereits nach einigen Seiten habe ich eine Idee von seinem Stil, von den Ideen & Wahrheiten, von der Seele eines Buches. Meine Obsession hat mich über die Jahre nicht nur zu einer Schnellleserin, sondern zu einer ausgewachsenen Lückenleserin gemacht. Das literaturwissenschaftliche Studium, in dem die Literaturliste verlangte, sich im ersten Semester bereits durch den halben Kanon zu fräsen, hat die Symptome weiter verstärkt. Mittlerweile kann ich während eines Wannenbades einen 200-Seiten Roman beenden. Bevor das Wasser den Gefrierpunkt erreicht und die Finger zu schrumpeln beginnen.

Diese Art zu lesen ist wie jede anständige Störung eine Belastung. Lückenlesen geht nicht nur auf das Budget, weil man sehr schnell neuen Stoff einkaufen muss. Es bedeutet auch, dass die besten Geschichten viel zu früh enden. Ganz zu schweigen davon, dass diese Art des Konsums der Literatur natürlich komplett unwürdig ist. Sie hat etwas steinzeitlich Unangemessenes. Ich springe, überblättere, setzte aus & wieder ein. Ich hopse nur genau soviel im Plot hin und her, dass ich ihm gerade noch folgen kann. Keine Spur von Muße. Ich will wissen, worum es geht, schnell die Handlung erfassen. Nicht mehr und auch nicht weniger. Der Lückenleseritis zum Opfer fallen Landschaftsbeschreibungen & Szenerien oder quälend lange innere Monologe. Dies ermöglicht mir das gesamte Lebenswerk von Jane Austen in 3 Stunden zu konsumieren. So schön solche Passagen gestaltet sind, so viele Stunden sie den Autor oder die Autorin gekostet haben, ich will die Essenz, das Fleisch und nicht die Beilagen. Ihr wisst schon, die kunstvoll in Form geschnittenen Möhrchen & den durch den Spritzbeutel geschickten Kartoffelbrei kann man bei einem guten Steak auch einfach weglassen.

Der Besitz des Buches ist flüchtig. Lückenlesen diesen Ausmaßes wird begleitet vom Vergessen. Wenn ich das Buch lese, bin ich ganz bei ihm, ich halte den Atem an oder weine vor Rührung. Aber um Erinnerung zu schaffen, braucht es Zeit zum Aufsaugen & Verdauen. Wenn ich die Buchdeckel zuklappe, hat das Verlieren bereits eingesetzt. Mich überfordert die Frage nach Lieblingsbüchern. Oder nach Details wie dem Beruf einer Hauptfigur, dem Namen eines Nebencharakters. Auch das Ende einer Geschichte ist oft schneller vergessen, als ich das nächste Buch aus dem Schrank nehmen kann. Manchmal stehe ich im Buchladen & weiß, dass ich ein Buch gelesen habe. Aber ich kann mich nicht erinnern. Mein Kopf ist vermutlich so voll mit Büchern, versuche ich mich zu beruhigen, dass mein Gehirn sie einfach manchmal falsch einsortiert. Unter Abgabefrist der Steuererklärung oder Verwandtengeburtstage – den leicht zu vergessenden Teilen.

Aber ich fühle mich schlecht deswegen. Mir tut das Ganze sehr leid für die Bücher. Ich bin nicht die Art Leserin, auf die sie gehofft haben, als sie das Licht der Druckerpresse erblickten. Deshalb drücke ich sie nach dem Zuklappen immer noch einmal besonders eng an mein Herz bevor ich sie zurückstelle. Vermutlich schauen meine Bücher auf unsere kurze und stürmische Beziehung mit Enttäuschung aber auch mit Wehmut zurück. Ihrem Therapeuten würden sie so etwas sagen wie: „Es gab Verbesserungsbedarf in der praktischen Ausgestaltung der Partnerschaft aber ich wurde – wenn auch nur sehr kurz – auch wahrhaftig geliebt.“

Foto: flickr – Pimthida – CC by 2.0