kleine schöne Dinge
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Unterhemdlos durch die Nacht

Wenn die Tage kühler werden, ist mir ab und zu morgens kalt. Ich trage trotzdem kein Unterhemd. In meiner Kinderwelt gab es eine klare Unterhemdregel. Sie gilt noch heute, wie ich nach unserem Umzug feststellte. Spätestens wenn die Temperatur auf zehn Grad fällt, sollte eines getragen werden. Es gehört akkurat in die Hose gesteckt, da es sonst seinen Zweck nicht erfüllt. Noch immer gibt es eine große Angst um die kindlichen Nieren. Sie bildet die Grundlage der Unterhemdregel und stellt sich damit in eine Reihe mit Kleidungshinweisen, die stets damit zu tun haben, dass das Kind „zu kalt“, aber interessanterweise selten „zu warm“ angezogen ist. So sollten auch relativ früh im Jahr Mützen getragen werden, um einer Kopfgrippe vorzubeugen. Ein Begriff, den ich ebenfalls gut aus meiner Kindheit kenne und den ich lange für komplett fiktiv hielt. Eine ausgedachte Krankheit, eine instrumentelle Kinderangst, wie sie sich Erwachsene ausdachten, weil es einfacher erschien, etwas mithilfe von einprägsamen Bildern im Kinderkopf zu verankern (im potentiell gefährlichen Weiher wohnt ein Monster) als die eigenen Beweggründe immer wieder zu erklären. Nun, eine Kopfgrippe gibt es tatsächlich, wie ich heute herausfand. Es handelt sich um eine umgangssprachliche Bezeichnung für eine Gehirnentzündung, die mich trotzdem nie ereilte, ob mit oder ohne Mütze.

Mein kleineres Kind jedenfalls hat die Unterhemdverliebtheit seiner neuen Umgebung bereitwillig umarmt. Es steckt jeden Morgen stolz eines davon in die Hose, vor dem Weg zum Kindergarten wird der Sitz gern noch einmal kontrolliert. Wie viele Kinder ist auch meines im Herzen konservativ und entgegen landläufiger Meinung Regeln gegenüber positiv eingestellt. Vorausgesetzt, sie ergeben Sinn und werden von allen – insbesondere auch von den Erwachsenen – gelebt.

Deshalb werde auch ich freundlich darauf hingewiesen, dass man ohne Unterhemd krank wird. Der Ton des Kindes lässt dabei keinen Zweifel daran, dass es sich hier um eine unumstößliche Tatsache handelt, wie etwa der Fakt, dass die Sonne jeden Tag auf- und untergeht.

Ich trage trotzdem kein Unterhemd, selbst wenn es am Bauch zieht. Und es macht mir jeden Tag wieder Freude, das so zu entscheiden. So sehr, dass diese Freude auf meine Liste mit den kleinen Dingen gewandert ist.

Meine Freude ist zum einen eine oberflächliche kindliche Freunde, die Freude eines kleinen Regelbruchs, die Freude darüber, mit etwas davongekommen zu sein, was eigentlich verboten ist. Ein Teil meines frühpubertären Aufbegehrens bestand darin, das Unterhemd als existentielles Kleidungsstück loszuwerden. Ich zog es konsequent nicht an oder versuchte es als einzige Oberbekleidung über viel zu weiten Hosen – Hip-Hop Outfits der 90er, einige werden sich erinnern – zweit zu verwerten. Unterhemden waren eben nur in bestimmten Zusammenhängen cool, Kleidungsstücke verlangen immer auch nach ihrem Kontext. Marky Mark in Calvin-Klein-Feinrippunterbuxen funktionierte super, alte Männer, die mit darüberhängenden Bäuchen im gleichen Outfit Samstagmorgen den Rasen mähen, eher weniger. Meine Unterhemddoktrin wurde von liebenswerten Frauen weitergegeben, die kunterbunte Kittelschürzen trugen, weil sie so gut Knitter und Flecken vergaben. Vielleicht konnten sie gar nicht um das Gefühl wissen, was Kleidung einem geben konnte, oder sie hatten sich entschieden, es nicht fühlen zu wollen, weil sie in einer Zeit aufgewachsen waren, in der es wenig brachte, sich nach schöner Kleidung zu sehnen.

Neben meiner kindlichen Rebellionsfreude gibt es noch eine tiefergehende erwachsene Freude. Sie ist entzückt von der Möglichkeit, etwas einfach für sich entscheiden zu können, selbst wenn es impulsiv geschieht und unsinnig scheint. Vermutlich ist meine Freude an der Unterhemdlosigkeit genau das. Die Freude über das Schöne am Erwachsensein, über die Freude ab und zu konsequent unsinnige Entscheidungen zu treffen, weil man sie immer selbst ausbaden muss und nur noch allein verantwortlich ist.

Die Vorstellung vom Erwachsensein als der Zeit, in der man machen kann, was man will, zerfasert ja erschreckend schnell und wird ersetzt durch die Erkenntnis, dass mit großer Macht große Verantwortung einhergeht, wie schon Spiderman schnell lernen musste (der ja bekanntlich selbst ein Freund unkonventioneller Alltagskleidung ist). Regeln vermehren sich, werden anerkannt, geprüft, gelebt, verworfen. Manche Aspekte der Selbstbestimmung verlieren schnell ihre Faszination. Den Wecker einfach klingeln lassen, bringt mindestens an Werktagen eher unnötigen Ärger mit sich. Und die meiste Zeit freue ich mich auch eher an den kleinen Dingen des rational-verantwortungsvollen Erwachsenentums, wie etwa den letzten Tropfen Shampoo oder Ketchup mit dem guten Gefühl aus der Flasche zu quetschen, dass man noch welche im Vorrat hat. Aber ab und zu, da gibt es eben auch die Dinge, die man tut, obwohl sie unvernünftig und schwer erklärbar sind. Denn vermutlich wäre das Erwachsenste, sich einzugestehen, dass es schon auch gemütlich sein kann, so mit ein bisschen Textil im unteren Bauchbereich. Aber das macht eben weniger Freude.

Im November schreibe ich über kleine schöne Dinge. Mehr dazu hier. Gestern ging es um Kuchenpakete.

Foto: flickr – simpleinsomnia – CC by 2.0

6 Kommentare

  1. Christiane sagt

    Ich liebe Unterhemden. Seit meiner Kindheit trage ich – außer im Hochsommer- täglich eins. Mir ist es zu kalt ohne Unterhemd und ich kann es mir gar nicht vorstellen, das wegzulassen.
    Schön, dass du hier wieder schreibst. Lese mich jetzt mal durch die neuesten Artikel.

    • Schön, dass du da bist! Übrigens, seit ich den Text geschrieben habe, trage ich sogar auch ab und zu eins, als hätte ich damit eine Schleuse geöffnet. Aber pssst…

  2. Es ist sehr schön hier wieder etwas von dir zu lesen. :)
    Und die Unterhemden haben uns jetzt auch erreicht. Mann und ich sind beide unterhemdenlos, aber das Kind hat sie im Kindergarten kennengelernt und wollte dann auch unbedingt welche. Die Oma hat dann gezeigt, wie man es reinstecken kann und seitdem wird jeden Tag das Unterhemd in die Hose gesteckt. Sorgfältig, umständlich und langwierig… aber es macht das Kind glücklich. Und ganz ehrlich: Ein kleiner Teil meines konservativen Mama-Herzes freut sich jedesmal, wenn das Kind so warm eingepackt vor mir steht. Als ob es so „richtig“ wäre. Erziehung sitzt halt tief xD

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