kleine schöne Dinge
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Ungelesene Bücherstapel

Es ist soweit: Ungelesene Bücherstapel machen mir kein schlechtes Gewissen mehr, im Gegenteil. Vielleicht hat es etwas mit dem großen Umzug zu tun, vor dem ich mir natürlich das Ziel gesetzt hatte, dieses Mal wirklich auszumisten. Im Zuge des Ausräumens kam ich irgendwann auch zu unseren Büchern und ungefähr um die gleiche Zeit sah ich eine Folge der Netflix-Serie mit Marie Kondo, in der sie einer Frau beim Sortieren ihrer Bücher half. Kondo benutzte die gleiche Methode wie bei anderen Dingen auch: Does it spark joy? Löst es Freude aus? Dabei werden die Dinge aufgereiht und berührt, sollten sie dabei keine Freude auslösen, dankt man ihnen dafür, dass sie Teil des eigenen Lebens waren und lässt sie los. Das heißt spenden oder wegwerfen.
Büchern kommt bei der Bewertung noch eine besondere Behandlung zu. Man soll versuchen, sie durch Berührungen aufzuwecken und wenn es sich um Langschläfer handelt, die das Herz nicht erfreuen, weg damit! Ich habe sowieso eine gespaltene Meinung zum Aufräumwahn und sterilen grau-weiß-Instagram-Umgebungen. Ich mag es eigentlich, viele Dinge zu haben und bin meistens trotz gelegentlicher „Es ist hier alles so unordentlich.“-Anfälle meistens sehr froh, wenn wir drei leere Klopapierrollen, Flaschenreiniger, eine Tube Alleskleber und bunte Federn für eine spontane Bastelaktion finden. Außerdem habe ich festgestellt, dass sich die Beziehung zu vielen Dingen mit der Zeit ändert. Mit Mitte Zwanzig hätte ich ein paar Erinnerungen aus meiner Jugend wohl gnadenlos entsorgt, weil sie eher Brechreiz als Freude auslösten. Heute macht es mich glücklich, manche alte Kinokarte, Fotos oder das Abishirt zu finden.
Unsere Welt ist sowieso schon gnadenlos zielorientiert. Alles muss einen Zweck, eine Bestimmung oder eine Absicht haben oder es scheint nichts wert. Gerade für Bücher ist das eine lächerliche Vorstellung. Natürlich hoffe ich, dass sie mich auf irgendeine Art berühren oder unterhalten, wenn ich eines lese. Und doch ist es nicht immer offensichtlich, was ein Buch einem geben kann. Manchmal wird erst Jahre später klar, dass in ihm Gefühle und Antworten liegen, nach denen man gar nicht gesucht hat.
Gerade ungelesene Bücher lassen sich nicht bewerten. Wenn sie ein schlechtes Gefühl auslösen, liegt es meist nur daran, dass wir glauben, möglichst alles zur gleichen Zeit tun zu müssen. Wir fühlen uns schlecht, weil wir wieder keine Zeit frei gemacht haben, um sie zu lesen. (Und denken unterschwellig oft, dass uns Lesen zu besseren Menschen macht als ausgedehnter Netflixkonsum, was ebenso Quatsch ist.)
Ungelesene Bücher sind schöne Versprechen an die Zukunft, an unsere Lesezukünfte, in denen irgendwann ein bisschen mehr Zeit da ist oder einfach die Lust, mal wieder ein Buch aufzuschlagen in dem Wissen, dass es uns dann verzaubern kann oder schrecklich langweilen wird. Sinnvolles Handeln ist nicht, ungelesene Bücher heute auszusortieren, sondern ihnen die Chance zu geben, bei uns zu bleiben, bis es soweit ist. Bücher müssen nicht, wie Marie Kondo an anderer Stelle sagt, unseren Werten entsprechen oder schon heute einen definierten Nutzen für unser zukünftiges Leben haben. Unsere ungelesenen Bücherstapel erzählen die Geschichte unserer Entfaltung, unserer Umwege und noch zu entdeckenden Möglichkeiten. Irgendwann wandern sie vielleicht in unsere Bücherregale, die im besten Fall zufällig und fast wahllos zusammengestellt sind. Sie stehen dann dort, weil wir sie so sehr lieben, dass wir sie mehrmals gelesen haben, nur einen Satz in ihnen mögen oder einfach das Cover schön fanden. Sie erzählen alles von uns und doch nichts, das macht sie so interessant. Deshalb stehen Gäste immer verstohlen oder offen davor – und nie vor gutsortierten Sockenschubladen oder unserem Geschirrschrank.

Im November schreibe ich über kleine schöne Dinge, weil ich finde, dass unser Alltag gute PR brauchen kann. Mehr dazu hier. Es ging bereits um Kuchenpakete,  fehlende Unterbekleidung  und Müll im Briefkasten.

Foto: flickr – Aaron Suggs – CC 2.0

6 Kommentare

  1. Vielen Dank für den deinen Artikel liebe Corinne! Ich frage mich schon so lange wo hinter all den weißen und beigefarbenen Schrankfronten das Leben verschwunden ist? Ich will in einer Umgebung wohnen, die „ich“ ausstrahlt, die ich schöne finde und in der ich mich wohl fühle. Schönheit und Wohlfühlen kennt doch aber kein „funktional“, „effizient“ und „optimiert“, oder? Mir ist das alles so fade.
    Und überhaupt … ich traue Menschen nicht, die keine Bücher haben .. LOL

  2. Clara sagt

    Oh nein, das Abishirt wanderte erst gestern in die Wegwerfkiste – jetzt muss ichs wieder rausholen!!

  3. Vieles ist konsumgeleitet. Ich schaffe es nicht, mir zu sagen, dass es nicht schlimm ist, wenn ich dieses Buch hier liegen habe aber sehr lange nicht lese. Die positive Sicht auf das Zukünftige muss ich mir noch zulegen, es macht mir immer ein schlechtes Gewissen und ich ärgere mich über mich selbst, dass ich wieder gedacht habe, etwas zu brauchen. Mein Umgang ist dann eher, es bewusst nicht zu kaufen, und meine Alltagsfreude ist dann der fast leere Stapel. :-)

    • Verstehe ich gut, FOMO habe ich auch bei vielen anderen Dingen und es ist ja auch genauso gewollt. Ist nicht immer leicht dann die eigene Unzufriedenheit zu moderieren.

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